Medical Gaslighting
Medical Gaslighting im Gesundheitswesen ist ein ernstzunehmendes Problem, bei dem die Beschwerden von Patient*innen nicht ernstgenommen oder fälschlicherweise als psychisch bedingt eingestuft werden. Besonders betroffen sind Frauen, Minderheiten und Personen mit schwer diagnostizierbaren Erkrankungen wie ME/CFS. Die psychologischen und sozialen Folgen für Betroffene sind gravierend und umfassen Stigmatisierung, Misstrauen gegenüber medizinischem Fachpersonal und unzureichende Behandlungen. Zur Verbesserung sind offene Kommunikation, Sensibilisierung und Schulung des medizinischen Personals sowie strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem erforderlich, um eine gerechte und empathische Versorgung zu gewährleisten.
- Definition und Bedeutung von Medical Gaslighting
- Historische Perspektive und Beispiele von Medical Gaslighting
- Gründe und Mechanismen des Medical Gaslighting
- Medical Gaslighting bei ME/CFS
- Psychologische und soziale Folgen für Betroffene von Medical Gaslighting und deren Umfeld
- Wege zur Verbesserung im Umgang mit Medical Gaslighting
- Schlussfolgerungen und Ausblick
1. Definition und Bedeutung von Medical Gaslighting
Definition von Medical Gaslighting
Medical Gaslighting ist ein Phänomen, das in der Medizin immer häufiger diskutiert wird. Es beschreibt eine Situation, in der die gesundheitlichen Beschwerden einer Person von medizinischem Fachpersonal nicht ernstgenommen werden. Dies geschieht oftmals ohne vorhergehende Untersuchung und basiert auf bestimmten körperlichen Merkmalen wie Geschlecht, ethnischer Herkunft, Gewicht oder sexueller Orientierung des*der Patient*in. Das Ergebnis kann von fehlerhaften Diagnosen bis hin zu gänzlich ausbleibenden oder unzureichenden Behandlungen reichen. Die psychische Belastung für Betroffene ist enorm, und kann zu Angststörungen sowie Depressionen führen.
Gaslighting als Manipulationsform
Gaslighting ist generell eine Manipulationsform, bei der das Ziel darin besteht, jemanden dazu zu bringen, seine eigenen Erfahrungen, Erinnerungen oder Wahrnehmungen in Frage zu stellen. Es wird als eine Form des emotionalen Missbrauchs betrachtet. Dieses Phänomen tritt häufig in mehreren Vorfällen auf und ist besonders wirksam, wenn mehrere Personen dieselbe Person in dieser Weise behandeln. Die Opfer von Gaslighting können zunehmend ängstlich und emotional werden, was ihre Glaubwürdigkeit sowohl bei anderen als auch bei sich selbst untergraben kann, was zu weiterem Vertrauensverlust und Isolation führen kann.
Relevanz im Gesundheitswesen
Im medizinischen Kontext wird Gaslighting häufiger bei bestimmten Patientengruppen, insbesondere bei Frauen und bei Krankheiten ohne klare diagnostische Tests, wie ME/CFS, chronische Schmerzen und Endometriose, beobachtet. Diese Form des Gaslightings kann bewusst oder unbewusst erfolgen.
Patient*innen mit ME/CFS erfahren oft, dass Gesundheitsfachkräfte ihre gesundheitlichen Probleme ignorieren oder die Symptome von ME/CFS als psychologisch statt physisch bedingt einstufen, was zu unangemessenen Behandlungen führen kann. Einige Ärzt*innen haben auch behauptet, dass Patient*innen nicht wirklich krank seien oder haben versucht, sie zu diskreditieren, indem sie vorschlugen, dass sie die Schwere ihrer Krankheit übertreiben.
Medical Gaslighting ist ein ernstzunehmendes Problem im Gesundheitswesen, das schwerwiegende Auswirkungen auf die Diagnose, Behandlung und das psychische Wohlbefinden von Patient*innen haben kann. Es ist entscheidend, dass sowohl medizinisches Fachpersonal als auch die breite Öffentlichkeit sich dieser Problematik bewusst werden, um eine angemessene und empathische medizinische Versorgung zu gewährleisten.
2. Historische Perspektive und Beispiele von Medical Gaslighting
Historischer Kontext
Medical Gaslighting ist kein neues Phänomen. Es hat eine lange Geschichte, in der seltene oder wenig verstandene Krankheitsbilder oft diskreditiert wurden. Ein klassisches Beispiel ist Multiple Sklerose (MS). Trotz Beschreibungen der Erkrankung seit dem 14. Jahrhundert und wissenschaftlicher Forschung seit den 1860ern, wurden Frauen mit klassischen MS-Symptomen oft als hysterisch diagnostiziert, während bei Männern eine neurologische Erkrankung diagnostiziert wurde. Diese ungleiche Behandlung basierte oft auf psychologisierenden Fehldiagnosen, die körperliche Symptome als psychische Leiden fehlinterpretierten.
ME/CFS und Medical Gaslighting
Ähnliche Muster sind bei ME/CFS beobachtet worden. Trotz Tausender wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die die biologische Validität von ME/CFS belegen, bleibt die Erkrankung diagnostisch herausfordernd. In den 1980er Jahren wurde ein Ausbruch von ME/CFS in mehreren kleinen Gemeinden in Lake Tahoe von lokalen Medien und Ärzt*innen oft als Massenhysterie abgetan. Anthony Komaroff, Professor an der Harvard Medical School und Experte für ME/CFS, betont, dass es keinen Grund mehr für Skepsis gegenüber biologischen Anomalien bei ME/CFS gibt.
Herausforderungen für Mediziner*innen
Die Herausforderung für Mediziner*innen besteht darin, dass unklare oder unbekannte Zustände oft vorschnell als psychische Erkrankungen eingestuft werden. Dies kann dazu führen, dass echte biologische Erkrankungen marginalisiert und nicht ernst genommen werden. Harvard-Pulmologe Jason Maley hebt hervor, dass das Fehlen einer rigorosen Beschreibung einer Krankheit dazu führen kann, dass sie als nicht real oder als reine Angststörung abgetan wird.
Auswirkungen auf Patient*innen
Die Konsequenzen von Medical Gaslighting für Patient*innen können verheerend sein. Wenn ihnen gesagt wird, dass ihre Symptome entweder nicht existieren oder reine Einbildungen sind, stellt dies sie vor ein klinisches Dilemma ohne klaren Behandlungsplan und keine konkreten Schritte zur Genesung. Dies kann zu Verwirrung, Verletzlichkeit und Selbstvorwürfen führen und in einigen Fällen sogar zu medizinischem PTSD.
Long COVID als Beispiel
Long COVID, auch Post-COVID-Syndrom genannt, ist ein aktuelles Beispiel für eine Erkrankung, die mit Skepsis und Gaslighting konfrontiert ist. Trotz wachsender Forschung und Anerkennung erleben Long-COVID-Patient*innen weiterhin Herausforderungen, ihre Erkrankung als real anerkannt zu bekommen. Der Psychiatrie-Resident Yochai Re’em weist darauf hin, dass die Einheitlichkeit der Symptompräsentation bei Long COVID eine psychosomatische Diagnose unwahrscheinlich macht.
Reaktion der Gemeinschaft
Patient*innen mit Long COVID und ME/CFS haben sich zusammengeschlossen, um durch Forschung und Advocacy-Arbeit ihre Erkrankungen anerkannt zu bekommen. Diese Bemühungen stoßen jedoch immer wieder auf Widerstand und Skepsis innerhalb der medizinischen Gemeinschaft. Diese Dynamiken verdeutlichen, wie tief Medical Gaslighting in der medizinischen Kultur verwurzelt ist und wie schwierig es für Betroffene sein kann, ihre Erkrankungen anerkannt zu bekommen.
3. Gründe und Mechanismen des Medical Gaslighting
Komplexe Ursachen von Medical Gaslighting
Medical Gaslighting tritt oft auf, wenn die Symptome von Patient*innen nicht eindeutig sind. Es kann unbewusst und aufgrund verschiedener Faktoren geschehen. Dazu gehören:
- Mangelnde Kenntnisse und Erfahrungen: Ärzt*innen haben oftmals begrenzte Erfahrungen mit seltenen oder schwer zu diagnostizierenden Krankheiten, was zu Fehlinterpretationen der Symptome führen kann.
- Zeitdruck und Arbeitsbelastung: Im überlasteten Gesundheitswesen haben Ärzt*innen oft zu wenig Zeit für umfassende Untersuchungen, was zu schnellen, oberflächlichen Diagnosen führen kann.
- Angst vor Haftung: Aus Furcht vor rechtlichen Konsequenzen könnten Ärzt*innen zögern, bestimmte Untersuchungen durchzuführen.
- Vorurteile: Stereotype über Geschlecht, Ethnizität, sozioökonomischen Status und andere Faktoren können ebenfalls dazu führen, dass Patient*innen nicht ernst genommen werden.
Spezifische Mechanismen
Die folgenden Punkte erklären, wie Medical Gaslighting funktioniert und warum es in der medizinischen Praxis vorkommt:
- Symptome werden heruntergespielt: Ärzt*innen könnten starke Schmerzen oder Symptome auf Stress oder psychische Faktoren zurückführen, anstatt diese gründlich zu untersuchen.
- Gender Health Gap: Es gibt deutliche Unterschiede in der Medizin zwischen den Geschlechtern. Symptome bei Frauen werden oft anders oder später diagnostiziert als bei Männern.
- Forschungslücken: Viele Medikamente und Behandlungen werden hauptsächlich an Männern getestet, was zu Wissenslücken in Bezug auf die Reaktionen von Frauen führt.
Medical Gaslighting entsteht also durch eine Kombination aus mangelnder Erfahrung, Zeitdruck, Vorurteilen und strukturellen Mängeln im Gesundheitssystem. Diese Faktoren können dazu führen, dass Ärzt*innen die Symptome von Patient*innen nicht angemessen erkennen und behandeln. Es ist wichtig, dass sich sowohl Ärzt*innen als auch Patient*innen dieser Dynamiken bewusst sind, um eine angemessene medizinische Versorgung sicherzustellen.
4. Medical Gaslighting bei ME/CFS
Spezifische Herausforderungen für Menschen mit ME/CFS
Patientinnen mit ME/CFS erleben oft, dass medizinisches Fachpersonal ihre gesundheitlichen Probleme ignoriert oder diese als psychisch bedingt einstuft. Dies führt häufig zu unangemessenen Behandlungen, da der Fokus auf die “Überzeugungen der Patient*innen über die Krankheit” und nicht auf die medizinische Behandlung der Symptome gelegt wird. Ärzt*innen haben in einigen Fällen behauptet, dass Patient*innen nicht wirklich krank seien oder sie der Übertreibung bezichtigt.
Rolle von Post-exertioneller Malaise (PEM)
Die Post-exertionelle Malaise (PEM) ist ein Kernsymptom von ME/CFS, das durch eine Verschlechterung der Symptome nach körperlicher, emotionaler oder geistiger Anstrengung gekennzeichnet ist. Die Anerkennung und das Verständnis von PEM sind entscheidend für das Management von ME/CFS, da Aktivitäten, die PEM auslösen, vermieden werden sollten. Allerdings wird PEM oft von medizinischem Fachpersonal übersehen oder nicht ernst genommen, was zu einer Verschlechterung der Symptome und des Gesundheitszustandes der Betroffenen führen kann.
Persönliche Erzählungen und Beispiele
Viele Patientinnen mit ME/CFS berichten von Erfahrungen mit Medical Gaslighting. Beispielsweise erleben sie, dass Ärzt*innen ihre Symptome als psychisch bedingt abtun oder sie für faul und arbeitsunwillig halten. Solche Erfahrungen können zu einem Vertrauensverlust in das medizinische System führen und die Suche nach angemessener Behandlung erschweren.
Schlussfolgerung
Die Herausforderungen und Erfahrungen von Menschen mit ME/CFS unterstreichen die Notwendigkeit eines sensibleren Umgangs mit dieser Erkrankung im medizinischen Bereich. Ein umfassendes Verständnis von ME/CFS, insbesondere der Rolle von PEM, ist für eine angemessene Behandlung und Betreuung dieser Patient*innengruppe unerlässlich. Medizinisches Fachpersonal muss sich der Tendenz zu Medical Gaslighting bewusst sein und diese vermeiden, um eine adäquate Versorgung von Menschen mit ME/CFS zu gewährleisten.
5. Psychologische und soziale Folgen für Betroffene von Medical Gaslighting und deren Umfeld
Psychologische Auswirkungen
Medical Gaslighting kann zu schwerwiegenden psychischen Belastungen bei Betroffenen führen. Die Nichtanerkennung ihrer Beschwerden kann Angststörungen, Depressionen und ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber dem medizinischen System hervorrufen. Diese psychische Belastung kann die Betroffenen weiter isolieren und ihr Leiden intensivieren.
Soziale Folgen
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Personen, die von Medical Gaslighting betroffen sind, wird oft durch Stigmatisierung und Diskriminierung geprägt. Dies kann in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld zu weiteren Herausforderungen führen. Stereotype und Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen, wie Frauen, People of Colour, Menschen mit Übergewicht oder LGBTIQ+-Personen, spielen eine bedeutende Rolle beim Medical Gaslighting und können die Stigmatisierung verstärken.
Auswirkungen auf Behandlungsverlauf
Die fehlende Anerkennung und angemessene Behandlung von Beschwerden kann den Verlauf und die Prognose von Erkrankungen negativ beeinflussen. Dies führt dazu, dass Betroffene oft über Jahre oder gar Jahrzehnte mit fehlerhaften Diagnosen leben, ohne dass die eigentliche Ursache ihrer Beschwerden erkannt und behandelt wird.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Medical Gaslighting nicht nur die medizinische Versorgung der Betroffenen beeinträchtigt, sondern auch zu psychologischen und sozialen Problemen führt, die weit über die unmittelbaren Gesundheitsauswirkungen hinausgehen. Sensibilisierung und Aufklärung sind daher entscheidend, um dieses Phänomen zu bekämpfen und eine gerechte Behandlung für alle zu gewährleisten.
6. Wege zur Verbesserung im Umgang mit Medical Gaslighting
Kommunikation und Aufklärung
Die offene Kommunikation zwischen Patient*innen und medizinischem Fachpersonal ist entscheidend. Betroffene sollten ermutigt werden, ihre Bedenken direkt mit Ärzt*innen zu besprechen und gegebenenfalls eine Zweit- oder Drittmeinung einzuholen. Dies kann helfen, die Sorgen der Patient*innen ernst zu nehmen und angemessene Untersuchungen zu gewährleisten.
Sensibilisierung und Schulung des Fachpersonals
Die Sensibilisierung für das Problem des Medical Gaslighting und die Schulung von medizinischem Fachpersonal in Empathie und aktivem Zuhören sind wichtige Schritte. Eine solche Schulung kann helfen, unbewusste Vorurteile abzubauen und eine patient*innenzentrierte Behandlung zu fördern.
Bereitschaft zur Anerkennung von Unwissenheit
Im medizinischen Bereich sollte eine Kultur geschaffen werden, in der es akzeptabel ist, Unwissenheit einzugestehen. Dies kann dazu beitragen, vermeidbare Fehler zu verhindern und eine offenere, lernbereite Haltung zu fördern.
Strukturelle Änderungen im Gesundheitssystem
Es ist wichtig, strukturelle Änderungen im Gesundheitssystem zu fördern, die es Ärzt*innen ermöglichen, sich mehr Zeit für ihre Patient*innen zu nehmen. Dazu gehören angemessene Budgets und Ressourcen, die eine gründliche Untersuchung und Behandlung von Patient*innen ermöglichen.
Zusammenfassend erfordert die Bekämpfung von Medical Gaslighting sowohl individuelle als auch systemische Ansätze. Die Verbesserung der Kommunikation zwischen Patient*innen und Ärzt*innen, die Schulung des medizinischen Personals und strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen sind entscheidende Schritte, um eine gerechtere und empathischere medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten.
7. Schlussfolgerungen und Ausblick
Notwendigkeit eines besseren Verständnisses
Die Auseinandersetzung mit Medical Gaslighting zeigt die dringende Notwendigkeit, das medizinische Verständnis zu verbessern und eine sensiblere Herangehensweise im Gesundheitsbereich zu fördern. Dies gilt insbesondere für die Behandlung von Minderheitengruppen und Frauen, die häufig von Diskriminierung und Medical Gaslighting betroffen sind.
Empfehlungen für Ärzt*innen
Für Ärzt*innen ist es entscheidend, sich der Existenz und der Auswirkungen von Medical Gaslighting bewusst zu sein. Sie sollten aktiv Vorurteile abbauen, empathisch zuhören und eine offene Kommunikation mit Patient*innen fördern. Dies beinhaltet die Bereitschaft, Unwissenheit einzugestehen und sich weiterzubilden, um eine patient*innenzentrierte Behandlung zu gewährleisten.
Empfehlungen für Betroffene
Patient*innen sollten ermutigt werden, ihre Bedenken offen anzusprechen und gegebenenfalls eine zweite oder dritte Meinung einzuholen. Sie haben ein Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung und sollten sich nicht scheuen, für ihre Gesundheit einzutreten. Gerade dies ist aber vor dem Hintergrund der Schwere, durch die eine ME/CFS-Erkrankung gekennzeichnet ist, oft ein großes Hindernis.
Systemische Veränderungen
Es bedarf systemischer Veränderungen im Gesundheitswesen, um Medical Gaslighting zu verhindern. Dazu gehören eine ausreichende Ressourcenzuweisung, um Ärzt*innen mehr Zeit für ihre Patient*innen zu ermöglichen, und eine umfassende Schulung des medizinischen Personals in Bezug auf Empathie und Patientenrechte.
Insgesamt zeigt sich, dass die Bekämpfung von Medical Gaslighting eine gemeinsame Anstrengung von medizinischem Fachpersonal, Patient*innen und dem Gesundheitssystem erfordert. Durch erhöhte Aufmerksamkeit, Sensibilisierung und strukturelle Verbesserungen kann ein gerechterer und empathischerer Umgang mit allen Patient*innen erreicht werden.